2. Die Vorgängerbauten von 1515 und 1554/55

Bei der Heizungsinstallation anlässlich der Innenrenovation von 1946/47 stiess man nach Entfernung des Langhausbodens auf alte Fundamente, die zwar fotografiert, aber offenbar nicht weiter dokumentiert wurden; somit sind weder Vermassungen, Detailzeichnungen, noch genaue Lokalisierungen für eine exakte Rekonstruktion verfügbar. Anhand der Fotos hat die Mittelalterarchäologin Béatrice Keller mit allen Vorbehalten eine Grobskizze zur Fundsituation erstellt. Danach lassen sich die Fundamentsreste von zwei verschiedenen Gebäuden erkennen, die dank den schriftlichen Quellen wohl als Kapelle von 1515 und Kirche 1554/55 identifiziert werden dürfen.

Die Kapelle von 1515

6. Kapellenfundament v. 1515 beim Südportal
Die Kapelle mit fraglicher Ausdehnung nach Osten und nach Westen lag wohl völlig im Bereich des heutigen Kirchenschiffs. Die südliche Langhausmauer, die gegen Osten etwa bis über die Südportalschwelle gereicht hat, dürfte zumindest im Fundament mit der heutigen identisch sein; möglich ist aber auch, dass das aufgehende Mauerwerk mit dem mittleren Südfenster noch von 1515 stammt. Die Breite des Langhauses betrug etwa 2/3 des heutigen, was sich aufgrund der Lage der Nordmauer ergibt. Über Länge und Abschluss des Chors, dessen Seitenmauern teilweise sichtbar sind, können keine Aussagen gemacht werden; über diese Fragen könnten allenfalls neue Grabungen Aufschluss geben. Ein noch vorhandener Rest einer Spannmauer unter dem Chorbogen der Kapelle und ein bei den aussortierten Steinen liegendes Birnstabfragment lassen jedoch vermuten, dass der Chor ein Gewölbe mit Kreuz-oder Netzrippen trug. Der spärliche Befund lässt erkennen, dass Otelfingen eine für diese Zeit und diese Gegend recht typische spätgotische Kapelle hatte, mit einem vergleichsweise schmalen Langhaus und einem eingezogenen Chor mit Kreuz-oder Netzgewölbe und einem geraden oder 3/8-Schluss.

Die Kirche von 1554/55

7. Rekonstruktionsskizze Keller prov.
Gemäss den Fundamentsresten handelte es sich bei der Kirche von 1554/55 nicht um einen eigentlichen Neubau, sondern lediglich um einen Ausbau der Kapelle von 1515 nach Osten unter Beibehaltung der Langhausmauern, die neu bis zum Ansatz der heutigen Chorschulter verlängert und beidseits mit einem zusätzlichen Fenster versehen wurden. Die Langhausverlängerung bedingte den kompletten Abbruch des Chors. Der so erweiterte Raum dürfte durch eine gerade Stirnmauer abgeschlossen worden sein; ein Teil davon dürfte immer noch Bestandteil der heutigen südlichen Chorschulter sein, während der andere Teil wohl 1607 für die Öffnung in den neuerbauten Chorturm durchbrochen wurde. Bei der Kirche von 1554/55 handelte es sich mit grosser Wahrscheinlichkeit um eine einfache Saalkirche über rechteckigem Grundriss. Dieser archäologische Befund bestätigt, dass der Abt des Klosters Wettingen das 1554 eingereichte Finanzierungsgesuch für Dach und Fensterscheiben des Chors ablehnend beantwortet hatte und es ist denkbar, dass daraufhin die Zürcher Behörden den Entschluss fassten, auf den Chor als teuersten Bauteil ganz zu verzichten.

Zwischen der Entstehungszeit der Kapelle von 1515 und der Erweiterung zur mutmasslichen Saalkirche von 1554/55 liegen die Umwälzungen der Reformation, die ihre Auswirkungen auch auf die protestantische Kirchenarchitektur hatte. War für die katholische Kirche der Chor mit dem Hochaltar ein wichtiger, von den Laien abgegrenzter Raumteil, so war er in einer protestantischen Kirche verzichtbar, denn hier standen im Zentrum Kanzel und Taufstein, deren enge Verbindung mit dem Gemeinderaum durchaus erwünscht war. Dass die Otelfinger Kapelle nach Osten verlängert und dabei wohl der Chor geopfert wurde, resp. vermutlich kein neuer erbaut wurde, ist somit auch in kultischer Hinsicht durchaus möglich.


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