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Otelfingen, Schulhaus von 1877 / heute Gemeindehaus

4. Zur Architektur des Schulhauses von 1877

19. Frontalansicht, 2001
Das Schulhaus von 1877 ist ein hübscher, klassizistischer Bau über längsrechteckigen Grundriss, traufständig und etwas erhöht zur Strasse. Der zweigeschossige Baukörper ist symmetrisch auf die Mittelachse hin angelegt. In der Westfassade, der Hauptfront, wird diese betont durch einen schwach vortretenden Mittelrisalit und einen Dreieckgiebel über einem zwerchhausartigen Ausbau im Dachgeschoss. Das zentrale stichbogenförmige Eingangsportal, erreichbar über eine dreistufige flache Treppe, wird flankiert von Pilastern und einem Türsturz aus Sandstein mit der Inschrift "18 Schulhaus 77". Im ersten Geschoss wie im Zwerchhaus des Dachgeschosses markieren Doppelfenster die Symmetrieachse; sie sind zusätzlich betont durch die stärker herausgearbeitete Fensterumrahmung. In der Flucht dieser Achse befand sich bis 1956 auch der Aufgang von der Strasse her.

Die Geschosse sind klar voneinander abgesetzt durch kräftige Sandsteingesimse. Ihre Hierarchie ist durch abnehmende Fenstergrössen festgelegt; die Fenster selbst sind umrahmt von Sandsteingewänden und Fensterbänken, die im Obergeschoss mit Konsolen und gerader Verdachung verziert sind. Das Hochparterre über der grauen Sockelzone ist in Anlehnung an die für den Baustil typische Rustikaquaderung mit Rillenputz versehen und die Seitenkanten mit Eckquadern. Die gleichen Gestaltungselemente bestimmen die Seitenfassaden, während die Ostseite kaum gegliedert ist; es schein fast, dass man auf der als unwichtig empfundenen Hinterseite Kosten sparen wollte. Dies könnte auch erklären, wieso der Abortanbau ursprünglich im althergebrachten Fachwerk ausgeführt wurde und damit so gar nicht zum übrigen Bau passte.

20. Primarschulzimmer mit Eisenstützen, 1933
Die Raumaufteilung im Innern orientiert sich ebenfalls an der Symmetrieachse. Durch das Portal gelangt man in einen Mittelkorridor, der hinten in die Treppen ins Obergeschoss und in den Keller führt. Links und rechts befanden sich ursprünglich die beiden Schulzimmer (heute Gemeindeverwaltung), deren Zimmerdecke aus statischen Gründen von zwei gusseisernen Säulen abgestützt wurde. Im ersten Obergeschoss befanden sich die beiden Lehrerwohnungen. Das Zimmer im zwerchhausartigen Giebelteil im Dachgeschoss nahm die Arbeitsschule auf und im Keller lag das umstrittene Turnlokal.

Die Formensprache ist ganz die des Klassizismus. Dass sie an einem Bau in einem Dorf mit damals vorwiegend bäuerlichen Fachwerkbauten zum Zuge kommt, mag auf den ersten Blick erstaunen, hängt aber eng mit der raschen Entwicklung des zürcherischen Schulwesens zusammen.
Das neue Schulgesetz von 1832, mit dem die Volksschule als wichtige staatliche Aufgabe definiert wurde, führte mittelfristig zu einer intensiven Schulbautätigkeit. Bereits 1835 erliess der Kanton eine "Anleitung über die Erbauung von Schulhäusern" mit den Anforderungen bezüglich Raum, Licht und Hygiene. Ein Jahr später wurde diese Anleitung ergänzt durch ein illustratives Tafelwerk mit 12 grossformatigen Musterplänen von Schulhäusern verschiedener Grössen und Typen. Diese Musterpläne zeigen nicht nur die verschiedenen Aussenansichten , sondern geben nebst Aufrissen auch die Grundrisse mit durchdachter Raumabfolge, klar durchgeformten Fassaden und Baudetails vor.

Für die vielen Gemeinden, die sich mit der Aufgabe konfrontiert sahen, ein neues, den staatlichen Vorgaben entsprechendes Schulhaus zu bauen, waren diese Pläne ungeheuer hilfreich. Indem darin die Organisation der verschiedenen Raumteile mit unterschiedlicher Funktion professionell gelöst und auch die architektonische Gestaltung überzeugend vorgegeben wurde, erhielten die örtlichen Baumeister ein wertvolles Hilfsmittel zur Meisterung der neuen Bauaufgabe.

Die Zürcher Musterpläne wurden geschaffen vom Architekten Heinrich Bräm (1792-1869) aus Bachsertal, der von Friedrich Weinbrenner (1766-1826) in Karlsruhe, einem bekannten Klassizisten, ausgebildet worden war; in der Schweiz gab es damals noch keine eigene Architektenschule. Insbesondere bei den Plänen für mittlere und grössere Schulhäuser orientierte sich Bräm an der Formensprache der letztlich auf die Renaissance zurückgehenden Palastarchitektur, die ihm von seinem Lehrer Weinbrenner her als Stil für repräsentative Bauten vertraut war.

21. Musterplan Hinterfassade
Ganz offensichtlich stützt sich auch das Schulhaus von Otelfingen auf einen dieser klassizistisch orientierten Musterpläne Bräms, nämlich den auf den Tafeln VII und VIII des Kompendiums wiedergegebenen, der für ein "Schulhaus mit einem Lehrzimmer für 100-120 Kinder und einer Lehrerwohnung auf dem Erdgeschoss und gleicher Eintheilung auf dem ersten Stockwerk" bestimmt ist. Wie zahlreiche stilverwandte Schulhäuser im Kanton noch zeigen, erfreute sich gerade dieser Plan grosser Beliebtheit. Das Schulhaus in Otelfingen ist eine besonders geglückte Variation.

Die Vorlage Bräms wurde vergleichsweise wenig abgewandelt. Am signifikantesten ist die Übertragung der Gestaltung der Hinterfassade auf die Frontseite. Dies ermöglichte die formal geschickte Lösung, die für den Einbau des Arbeitsschulzimmers notwendige Anhebung des Daches harmonisch mit dem Dreieckgiebel zu verbinden. Was die Innenraumaufteilung betrifft, wurden in Otelfingen lediglich beide Schulzimmer ins Hochparterre und beide Lehrerwohnungen, deren Grundriss mit Bräms Vorgabe praktisch deckungsgleich sind, ins Obergeschoss. verlegt.

Wer den Musterplan den Otelfinger Bedürfnissen angepasst hat, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit ausmachen. Aus der Planungsgeschichte des Schulhauses geht aber klar hervor, dass der Zürcher Staatsbaumeister Heinrich Rudolf Roth (1831-1905), zumindest in beratender Funktion mitgewirkt hatte. Nachweislich hat Roth auch andere Schulhäuser nach demselben Musterplan gebaut, so z.B. das Schulhaus in Zürich-Wiedikon, das in Otelfingen erwiesenermassen für den Turnkeller Pate stand.

22. Musterplan Querschnitt
Verantwortlicher Baumeister war gemäss Überlieferung Baptist Sekinger aus dem benachbarten, heute in Würenlos/AG eingemeindeten Kempfhof. Er war der Ahnherr des heute noch hier ansässigen Familienunternehmens Gebrüder Sekinger AG und sehr wohl in der Lage, den Bau gemäss dem vorgegebenen Musterplan stilsicher umzusetzen. Dies belegt etwa die kleine Neubarock-Villa an der Flühstrasse 13 in Rieden, die von seiner Hand stammt. Das Schulhaus Otelfingen ist in verschiedenster Hinsicht durchaus bemerkenswert. Mit dem zur Anwendung gekommenen repräsentativen Bautypus von gekonnt harmonischem und klaren Aufbau ist es ein gutes Beispiel dafür, wie sich der Schulbau damals definitiv zu einer neuen Aufgabe der Architektur durchmauserte.

Trotz Umbauten und Neunutzung ist zudem - interessant für die Schulgeschichte - auch die innere Organisation des Hauses noch gut erkennbar.
Das äussere Erscheinungsbild des Schulhauses ist fast völlig unverändert erhalten geblieben. Dank seinem vornehm und repräsentativ wirkenden Stil, seiner erhöhten und zurückgesetzten Lage und seinem bis heute freien Umgebungsraum vermag das Gebäude dem Anspruch seiner Erbauer als "Zierde und Krone des Dorfes" noch immer gerecht zu werden. Es bleibt zu hoffen, dass die aktuellen Erweiterungspläne der Gemeinde gebührende Rücksicht darauf nehmen.

Erika Feier Erni


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