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Otelfingen, Mühle

2. Geschichte und Baugeschichte 1598-1961

Bereits 1598 waren offenbar genügend Mittel vorhanden, damit Sohn und Nachfolger Christoffel oder Christen Schlatter die heute noch bestehende Mühle mit integrierter Müllerwohnung bauen konnte. Konzeption wie Details des herrschaftlich wirkenden Gebäudes lassen auf Wohlhabenheit und gesundes Selbstbewusstsein des Erbauers schliessen, dessen Erfolg und soziales Prestige offensichtlich waren. Das Baujahr wurde nicht nur auf dem Kapitell der Fenstersäule in der Stube vermerkt, sondern auch auf dem Sturz über dem südseitigen linken Fenster-Paar des Obergeschosses.

6. Mühle Südseite, 2003
Für jeden Müller war die sichere Verfügbarkeit des Wasser als Energiequelle von grundsätzlicher Bedeutung. Insbesondere in Zeiten von Trockenheit waren deshalb Auseinandersetzungen zwischen den Bauern und dem Müller vorprogrammiert. Auch bei Christoffel Schlatter wurden Wasserhändel aktenkundig. Einmal klagte er gegen 19 Bauern aus Otelfingen und Boppelsen, zum andern Mal gegen die Gemeinde Boppelsen, weil letztere ihm entgegen seiner verbrieften Rechte nicht erlauben wollte, bei Trockenheit den Bach unterhalb von Boppelsen zu öffnen und das Wasser auf seine Mühle zu leiten. Im Prozess in beiden Angelegenheiten entschied der Rat von Zürich 1635 grundsätzlich zu Gunsten des Müllers; dies entsprach durchaus gängiger Rechtspraxis, weil die Versorgung der Bevölkerung mit dem Hauptnahrungsmittel Mehl Priorität hatte. Allerdings machte der Rat diese Bevorzugung des Müllers von einer echten Notlage abhängig, "dass er nit mehr voll mit einem Rad fahren khöndte". Was den Streitfall mit der Gemeinde Boppelsen betrifft, die Schlatter vorwarf, dass er seine Mühle "von Zyt zu Zyt vergrösseret" habe und "billich daruss folgen müssen, das er auch destmehr Wassser, aber zu ihrem Schaden" bezöge, so wurde der Müller dazu verdonnert, in seiner "Wyger-Wys" auf eigenen Kosten einen Weiher "in rechter gebührender Grösse zu erstellen"; nur wenn der auch leer wäre, dürften die Boppelser während 14 Tagen nicht wässern. Worin die Mühlevergrösserung bestand, von der wir da zufällig erfahren, ist leider nicht ausgeführt.

Gemäss dem 1684 nachgeführten Urbar des Klosters Wettingen bestand die Mühle damals aus Haus und Hofstatt, darinnen drey Mahlhufen und ein Rellen, samt Baum-und Krutgarten. Verner ein Schuren nechst an dieserem Hus oberhalb gelegen, sampt einer Trodten, darinnen auch ein Mahlhufen, item Ryby und Stempf samt allem darzu gehörigen Mülligschirr, mitt aller Freiheit unnd Gerechtigkeit".

Der so beschriebene Umfang der Mühle ist weitgehend mit dem heutigen Bestand identisch. In der Tat durften Mühlen zur Sicherung ihrer Betriebsgrundlage bei Erbteilungen nicht aufgeteilt werden; die nachgeborenen Söhne wurden deshalb in der Regel mit Ländereien oder Häusern ausserhalb des Mühlebesitzes abgefunden.

7. Hofeingang Westseite, Speicher,Scheune
Anhand der auf diversen Gebäudeteilen angebrachten Daten lassen sich mehrere Bautätigkeiten im 18. Jahrhundert nachzeichnen. Vermutlich 1703 wurde die grosse Scheune, die "Schuren nechst an dieserem Hus" entweder umgebaut oder neu erstellt, wie aus dem Datum über dem Tor zum gewölbten Keller unter der Scheune zu folgern ist. 1714 folgte ein Trottenneubau auf der Scheunenostseite und an Bauarbeiten am Dachstuhl erinnert das am mittleren Längsbalken des Dachstocks nordseits angebrachte Datum 1730 samt Monogramm HsH des Müllers Hans Schlatter.

Der Nachfolger, Heinrich Schlatter (1715-1775), nahm wohl Umbauten am Mahlraum und Keller vor, zumindest lassen seine Initialen HE SH und die Jahrzahl 1755 auf dem Sturz des grösseren zum Mahlraum führenden Rundportals das vermuten. Es ist denkbar, dass er dieses Portal erhöhen und verbreitern liess, damit man mit Wagen in den Mahlraum fahren konnte. Möglicherweise erhielt zu der Zeit auch die Wohnstube ihre Täferung.

8. Scheune, gedeckter Gang, hofseitig, 1968
Bemerkenswerte Informationen über die Mühle zu seiner Zeit liefert eine offizielle Erhebung von 1764, gemäss der damals insgesamt 18 Leute(!) in der Mühle lebten, nämlich 3 Männer und 4 Frauen, sowie 2 Söhne und 2 Töchter unter 16 Jahre, 4 Knechte und 3 Mägde. Im Stall standen 2 Stiere, 2 Kühe, 6 "München" Pferde, 16 Schweine und 5 Hühner. Der Landbesitz des Müllers wurde angegeben mit 28 Mannwerk 2Vierling Wiesen, 62 Juchart 3 Vierling Äcker, 5 Juchart 3 Vierling Reben und 16 Juchart Holz, alles zusammen nach heutigen Massen also ca. 39 ha. Offenbar ernährte die Mühle damals eine wohl drei Generationen umfassende Grossfamilie nebst den drei Knechten und vier Mägden und war damit ein prosperierendes Unternehmen, selbst wenn ein Teil der Arbeitskräfte wohl durch die Bewirtschaftung der ansehnlichen Ländereien und der Tierzucht gebunden war, die auch einen wichtigen Teil zum Familieneinkommen beitrug. Kaum mehr vorstellbar ist heute das Zusammenleben von so vielen Leuten in einem zwar geräumigen, aber doch nur mit einer einzigen Küche ausgerüsteten Haus, was wohl eine gehörige Portion Kompromissfähigkeit voraussetzte.

9. Scheune, gedeckter Gang, hofseitig, 2004
Unter Hans Jacob Schlatter (1775-1853), der die Mühle ca. 1795 übernahm, änderten sich die äusseren Bedingungen für die Müllerei grundlegend. Mit der Abschaffung der feudalen Privilegien verschwanden in der Helvetik auch die alten Mühlerechte wie Mühlebann und -zwang. Das Ansehen, das die Müller bisher genossen hatten und ihr geradezu sprichwörtlicher Reichtum führte nach der Liberalisierung zur Gründung zahlreicher neuer Mühlen und die ungewohnte Konkurrenz bewirkte den Zusammenbruch vieler bestehender Mühlen. Wenngleich in der Restauration diese Entwicklung zum Teil wieder rückgängig gemacht wurde und neue Mühlen eine staatliche Konzession haben mussten, die nur bei Bedarf erteilt wurde, dürfte die wirtschaftliche Situation für die Müller im 19. Jahrhundert wesentlich härter geworden zu sein.

Gemäss dem letztem Urbar des Klosters Wettingen von 1798 bestand die Mühle Otelfingen seit dem 16. Jahrhundert unverändert aus einem mit drei Mahlgängen und einer Relle ausgerüsteten Haus, einer Hofstatt, einer Scheune mit Reibe- und Stampfmühle und einem weiteren Mahlgang, einer Trotte, sowie der übrigen Mühleausrüstung. Auch 1813 wird sie immer noch als "Mühlj und Mühlj-Gewerb, Haus und Hofstatt, Scheür und Bestallungen, Schweinestall und Krautgarten" mit der gleichen Mühle-Infrastruktur wie ehedem beschrieben. Neu ist hier lediglich der explizite Hinweis auf den Schweinestall und die Bestallungen.

Auf die Herausforderung der Zeit reagierten die Müller von Otelfingen offenbar mit Investitionen in die Mühletechnologie einerseits und mit Diversifikationen andererseits.

Noch im gleichen Jahr 1813 sind erstmals eine Sägerei und eine Gipsmühle erwähnt. Sie waren in einem eigenen, wohl hinter der Scheune liegenden Gebäude untergebracht, das bereits 1840 wieder "geschlissen" wurde. Fast gleichzeitig, 1841, wurde Reibe und Beinmühle, die seit alters her in der Scheune betriebene "Rybi und Stämpf", im Betrieb eingestellt.

Diese auffällige Koinzidenz dürfte damit zusammenhängen, dass offenbar der damalige Müller, Johannes Schlatter, zusammen mit seinen Brüdern Salomon und Jakob die Mühlennebenbetriebe auszubauen gedachte. Da der bisherige Standort in der Mühlenscheune mit seinem antriebsschwachen, unterschlächtigen Wasserrad für den geplanten Ausbau wohl zu wenig effizient war und auch räumlich zu wenig Reserve hatte, zogen sie einen Neubau vor. Im Oberdorf, nicht sehr weit vom alten Standort hinter der "alten" Mühle entfernt, bauten sie ein neues Wohn- und Mühlengebäude mit einem angegliederten Säge- und Reibegebäude. Als Besitzer dieser neuen oder oberen Mühle waren 1841 die drei Brüder eingetragen.. Prioritär fertiggestellt worden war damals das nun mit einem oberschlächtigen Wasserrad ausgestattete Säge- und Reibegebäude, weil ja die Einrichtungen der "alten" Mühle abgelöst werden mussten, während für den eigentlichen Mühlebetrieb derzeit weder Wasserräder noch die übrige Mechanik vorhanden war.

1846 waren Bau und Einrichtung der oberen Mühle vollendet und eingetragener Alleinbesitzer war Salomon Schlatter; seine Brüder hatten sich aus diesem Betrieb wieder zurückgezogen.

Aber auch in die "alte" Mühle war investiert worden. 1810, erstmals seit ihrem Bau 1598, wurde das Aussehen der Mühle signifikant verändert, indem an der Südwestecke ein doppelstöckiger kleiner Anbau in partieller Riegelbauweise errichtet wurde, der im Erdgeschoss als Waschhaus, im Obergeschoss als Wohnraum genutzt wurde; auf dem Türsturz zum Hof ist dieses Datum festgehalten.

10. Scheune und Trottanbau von Ost, 1968
1829 liess der derzeitige Müller Hans Jacob Schlatter im Mahlraum einen neuen Mahlstuhl einbauen, der heute noch zum Teil erhalten ist. Ob er wegen der Erweiterung durch ein zweites oberschlächtiges Wasserrad notwendig wurde, dessen Existenz 1841 belegt ist, ist nicht erwiesen, wäre aber plausibel. 1841 wird auch erstmals ein Wagenschopfanbau auf der Ostseite des Mühlegebäudes erwähnt. Wie 1847 spezifiziert, trieben die beiden Wasserräder 4 Kammräder von Holz an. Die "alte" Mühle, mittlerweile auf den gleichen Johannes Schlatter übergegangen, der auch den Bau der "oberen" Mühle forciert hatte, war somit auf höhere Leistung getrimmt worden.

Müller Johannes Schlatter war Eigentümer der Mühle und ihrer Einrichtungen. Das Wohnhaus und die Annexbauten, Scheune, Trotte und Keller, sowie Speicher mit Schweinstall teilte er mit Jacob Schlatter, der sich wohl mehr um die zur Mühle zugehörige Landwirtschaft kümmerte.

1869 gingen die Mühle und der hälftige Anteil an den Wohn- und Nutzbauten an die Erben von Müller Johannes Schlatter über. An ihn selbst erinnert der noch heute in der Mühlestube hängende Entlassungsschein von 1845, den ihm das Kavalleriekorps des Kantons Zürich nach zwölfjähriger Dienstzeit ausgestellt hat.

Als neuer Mühlebesitzer wurde 1876 der als Untermüller bezeichnete Jakob Schlatter eingetragen, womit nun zwei Jacobe nebeneinander in der Mühle lebten, wohl Neffe und Onkel.

Sie liessen 1880 das alte Speicher- und Schweinestallgebäude abbrechen. Ersetzt wurde es durch das heute noch bestehende freistehende Schopfgebäude mit Schweineställen und einer Kammer im ersten Geschoss. Eigentümer je zur Hälfte waren Untermüller Jakob Schlatter und Jakob Schmid, der seit 1890 eingetragener Besitzer der oberen Mühle war, was auf eine fortbestehende Kooperation zwischen den beiden Mühlen hindeutet.

1901 erhielt die Westfassade der Mühle einen Holzschopfanbau, gleichzeitig entstand an der Nordostecke ein Staubhausanbau.

1902 wurde Otelfingen an das Elektrizitätswerk Dietikon angeschlossen. Auch die Mühle wurde von 1910 bis 1939 schrittweise elektrifiziert; bis zum Kriegsausbruch 1939 wurde parallel dazu auch die Wasserkraft weitergenutzt. Noch vor 1922 wurde der alte Mahlstuhl durch einen an die Westmauer anstossenden grossen Querteil erweitert.

11. Scheune von Ost, 2004
Da die Bauern Getreide-Pflichtlager halten mussten, erfuhr die Mühle während des zweiten Weltkriegs eine letzte kurze Blüte und hoffnungsvoll errichtete Müller Jakob Schlatter in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts einen dritten Mahlstuhl auf der Ostseite des Mahlraums. Der heute so grosszügig wirkende Raum war damit aber übermöbliert, die Arbeitsabläufe wenig ergonomisch, zumal auch Räume der darüberliegenden Wohnung für den Betrieb umfunktioniert werden mussten. Im Nordostzimmer im Obergeschoss wurden die Trichter über dem Mahlgang auf dem neuen Mahlstuhl und ein Motor untergebracht, während ein offener Warenlift das Mahlgut vom neuen Mahlstuhl aus durch die Mahlraumdecke in dieses Zimmer und in den Estrich beförderte oder von da herunterholte. Die alte Mühle war so nicht rationell zu betreiben und selbst bei grösseren Investitionen nicht mehr konkurrenzfähig zu den neuen Grossmühlen. Der Betrieb wurde deshalb 1961 eingestellt. Werner Schlatter, der Sohn Jakobs, der selbst noch die Müllerlehre absolviert hatte, war zu dieser Zeit gerade volljährig geworden. Die fast vierhundertjährige Ära der Müller aus der Familie Schlatter auf der Mühle Otelfingen fand damit ihr Ende.

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